Warum der Schrittzähler am Handgelenk sitzt_Technologieengel

Internet of Things (IoT)

„Du musst Dich mehr bewegen“, riet mir ein Freund. Ich lächelte. Tat ich das nicht schon? Per Rad ins Büro, zu Fuß zum Mittagessen und abends mit meiner Tochter in den Wald? „10.000 Schritte sollten es pro Tag mindestens sein. Da gibt’s so Armbänder, die messen Deine Aktivität. Schau Dir das mal an.“ Klar. 10.000 Schritte. Ein Sensor, der meine Schritte an der sachlogisch deplatziertesten Stelle am Körper mitzählt, am Handgelenk.

Der 10.000 Schritte Mythos

Auf dem Nachhauseweg gingen mir diese 10.000 Schritte pro Tag nicht aus dem Kopf. Wieso ausgerechnet 10.000? Warum nicht 12.000 oder nur 5.000? Das Ganze war für mich in etwa so durchschaubar, wie fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag essen. Ja, ich habe das gemacht und ja, ich war fünf Mal am Tag auf der Suche nach einem Biomülleimer.

Wenn man von solchen Gedanken begleitet wird nimmt es nicht Wunder, wenn man selektiv aufmerksam auf seine Umgebung wird. So wie ich als junger Vater ständig Kinderwägen sah, von denen ich zuvor nichts mitbekommen hatte, sah ich plötzlich bei unzähligen Menschen Fitness-Armbänder am Handgelenk blitzen. Schätzungen zufolge sollen bis 2020 etwa 500 Millionen dieser Geräte locker lässig an ihren Besitzern baumeln, um jeden Schritt und Fehltritt aufzuzeichnen. Zu Hause angekommen recherchierte ich. Überaschenderweise kommen immer mehr Studien zum Schluss, dass 10.000 Schritte vor allem eines sind: ein Marketing-Gag, der auf unsauberer wissenschaftlicher Methodik basiert.

Die Ziele des IoT im Gesundheitsmarkt

Zwei Dinge sind sicher in der IoT-Welt: Die Hauptanwendung im Gesundheitsbereich ist Gesundheitsmonitoring und die Geräte werden bald omnipräsent sein.

Tauchten bis dato Produkte und Apps im personal health tracker Segment der early adopters (also Neudeutsch: den „Früh-Anwendern“ oder old school gesagt: den „Trendsettern“) auf, so entwickelt sich dieses Feld in den letzten Jahren rasant weiter. Die Beziehung zwischen Konsumenten resp. Patienten und Gesundheitsanbietern, samt der dahinterstehenden Systemfinanciers wird enger. Dabei spielen die Motivation der Patienten und das Konsumentenbewusstsein eine entscheidende Rolle, die vom Gesundheitssystem in Nutzungsanreize und Finanzierungsschemata übersetzt werden. Man denke nur an die Verwendung von ICMs (insertable cardiac monitor) in Form von implantierbaren Herzmonitoren (Literaturquelle:  https://www.herzberatung.de/diagnose/ICM-Herzmonitor-id52382.html)

Neben diesen personenzentrierten Lösungen sucht die IoT Industrie natürlich nach Optionen ihre Technologie in den Bereichen Robotik, künstliche Intelligenz und Big Data auszubauen. Ein weiterer Fokus liegt somit neben dem monitoring und tracking von Individuen in der Vernetzung der erhaltenen Ergebnisse. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht ein längst überfälliges Ziel. Das Wissen um Krankheits-Hot-Spots, um die Entwicklung epidemischer Krankheiten etc., samt der damit präziser steuerbaren Interventionsmöglichkeiten klingt wie das gesundheitssystemische Utopia eines Thomas Morus. Dafür lohnt es sich doch 10.000 Schritte am Tag zu gehen, nicht wahr?

Eins, zwei, drei, Manpo-Kei

Japan richtet nicht nur 2020 die Olympischen Sommerspiele aus, nein, bereits 1964 war das Land Gastgeber für den ehrenwerten Kampf um Gold. Im Zuge der damaligen Euphorie, beschloss die emsige und bereits ohnehin wie geschmiert laufende Marketingmaschinerie im Jahr 1965 ein Pedometer ins Rennen zu schicken. Was im täglichen Gewusel Tokios einen gewissen augenzwinkernden Witz in sich trägt. (Bildquelle: https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2018/sep/03/watch-your-step-why-the-10000-daily-goal-is-built-on-bad-science)

Die Yamasa Shōyu K. K. (oder Yamasa Corporation) stellt eigentlich recht schmackhafte Soja-Saucen und Teriyaki-Marinaden her. 1965 entließ die Firma jedoch den Manpo-Kei in die japanische Welt. Übersetzt: der „10.000-Schritte-Messer“. Eine Welt, die gerade das erste Mal die olympischen Spiele in Farbe gesehen hatte.

Professor David Bassett vom Institut für Kinesiologie-, Freizeit- und Sportwissenschaften der University of Tennessee vermutet aber in einem Interview mit The Guardian: „Sie hatten wohl schlicht das Gefühl, dass es eine Zahl war, die auf einen aktiven Lebensstil hinwies und somit gesund wäre.“ Die World Health Organisation und die American Heart Foundation fanden es einmalig. Sie übernahmen die 10.000 Schritte als Gold-Standard. Wissenschaftlich haltbar ist die Zahl jedoch in keiner Weise.

Elektronische Gesundheitsakten

Wissenschaftliche Haltbarkeit ist aber eine Voraussetzung für das Funktionieren von Lösungen, denn die Grundlage für nachhaltige Veränderungen sind verifizierte Daten, die aus Information Wissen machen. Die durch Fitness-Armbänder, Schrittzähler, Herzmonitore etc. gesammelten Daten landen in Electronic Healthcare Records (EHR), sprich, elektronischen Gesundheitsakten. Diese sollen Ärzte, Krankenschwestern und andere Gesundheitsanbieter helfen unseren Gesundheitszustand zu erhalten oder, im Fall von Abweichungen, rechtzeitig zu intervenieren.

Ein Schlüssel für die bestmögliche Nutzung der durch IoT gesammelten Daten werden die Real-Time Health Systeme (RTHS) sein. Per Big Data Analyse wird es möglich werden Prozesse und Trends zu evaluieren, unabhängig davon, ob es sich um statische oder dynamische Daten handelt. Tatsache ist: EHR und RTHS machen das Gesundheitssystem schneller, flexibler, patientenzentrierter, planbarer und damit leistbarer.

Nun liegen diese EHRs teils in privater, teils in öffentlicher Hand, was die Sache hinreichend komplizierter Macht. Stichwort: Interoperabilität. Bedenkt man die Vielzahl an IoT Lösungen, dann braucht es nur den gesunden Hausverstand um sich klar zu machen: „Wie bitte sollen diese ganzen Systeme miteinander kommunizieren?“

Wir sind so sehr daran gewöhnt, dass das Headset Bluetooth-fähig ist, sich der Fotoapparat via Wi-Fi mit meinem Tablet verbindet und man nebenher PDF-Dateien auf allen gängigen Endgeräten lesen kann. Aber Gesundheitsdaten? Da wollen wir dann doch bitte Sicherheit haben, dass niemand unberechtigt mitliest. Wobei ich es immer faszinierend finde, dass man einer Firma ohne zu Zögern seine Daten gibt, aber wehe der Staat fragt nach Daten, die er ja eigentlich haben sollte. Es geht wohl um das Recht frei wählen zu können. Firmen sagen: „Du kannst, wenn du willst“, der Staat sagt: „Du musst, auch wenn du nicht willst.“ So oder so ähnlich wollen wir es zumindest glauben.

Ein Schritt zurück und der Blick aufs Ganze

Doch kommen wir noch einmal auf die 10.000 Schritte zu sprechen. Das Royal College of General Practitioners (RCGP) und Public Health England (PHE) stellten in Studien fest, dass weniger die Entfernung oder die Zahl der Schritte ausschlaggebend für den Erhalt der Gesundheit ist, sondern vielmehr die zeitliche Dauer, in der man sich aktiv bewegt, um das Risiko eines frühen Todes zu sterben um 15% zu senken. Für Erwachsene heißt das: Jeden Tag 30 Minuten mit mindestens 7.500 Schritten resp. etwa sechs Kilometer genügen. (Literaturquelle: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3197470/)

Klingt zu viel? Geht auch schneller. Ein rascher Spaziergang von 10 Minuten pro Tag sind genauso gut. Am Ende der Woche sollte man auf etwa zwei Stunden moderate körperliche Aktivität kommen. Das ist machbar und reduziert die Risiken für Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebsarten.

Gesundheits-Apps haben ein Problem …

… sie alle fundieren viel zu sehr auf Vermutungen der Entwickler als auf verifizierten Studien-Ergebnissen. Rund 165.000 Gesundheits-Apps verbreiten also eher Glauben, als Wissen. Natürlich, der Glaube kann Berge versetzen, aber was, wenn mir meine App gut gemeinte Ratschläge erteilt ohne zumindest eine kleine Anamnese durchzuführen? Wie viele Apps fragen mich nach zurückliegenden Operationen, Verletzungen, chronischen Erkrankungen oder Dauermedikation? Die Gefahr Ziele anzustreben, die dem Körper schaden, statt ihn gesund zu erhalten, liegt auf der Hand. Oder nach Kurt Tucholsky: „Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.“

Die Forderung statt einer Schrittzahl eine Kadenz, besser gesagt, die Schrittrate oder die Schrittfrequenz zu ermitteln, kommen immer mehr Anbieter nach. Caterine Tudor-Locke et al. (2018) (Literaturquelle: https://bjsm.bmj.com/content/52/12/776.info ) fanden heraus, dass 100 Schritte pro Minute ein gutes Mittelmaß ist. Google Fit hat bereits darauf reagiert. Auf der Plattform ist keine Schrittzahl pro Tag mehr zu finden. Die App motiviert die Nutzer vielmehr dazu sich auf die Zeit zu konzentrieren, die sie pro Tag mit ihrem Training verbringen. Diese Entwicklung ist höchst erfreulich, da sie darauf abzielt ein Verhaltenssystem zu entwickeln, als einer Zahl nachzulaufen. Kann es sein, dass wir aus dem industriellen Produktzahl-Denken nun endlich in das vernetzte Systemdenken unseres Jahrhunderts wechseln? Es wäre höchst wünschenswert.

Das IoT ist da, bleibt und wächst

Subsummiert kann somit festgehalten werden: Das Internet of Things ist ebenso wie der Mensch der Evolution unterworfen. Mit einem Marketing-Gag von 10.000 Schritten begann es, 50 Jahre später lernen wir, dass nicht die Anzahl, sondern die Zeit ausschlaggebend ist und adaptieren das System. Genau so soll es sein.

Die „smarte“ Nische im Gesundheitsmarkt definiert vier Erfolgskomponenten: (1) es wird eine höhere Nachfrage an IoT-Lösungen für „best ager“ geben, (2) das Konsumentenbewusstsein wird sich schärfen, (3) die Popularität tragbarer IoT-Lösungen wird steigen und (4) strategische Kooperationen zwischen Gesundheitsanbietern und Firmen werden nicht mehr wegzudenken sein. 2020 wird mit einem Marktwert dieser Nische von rund 179 Milliarden Dollar auszugehen sein.

Das Internet of Things wird dabei helfen die älter werdende Gesellschaft, dass sich ändernde Gesundheitsverhalten, die Wünsche der Patienten und damit die Herausforderungen an das Gesundheitssystem zu verbessern. Es wird helfen Gesundheitsberufe zu entlasten, Ausgaben zu sparen und die Versorgungsqualität zu steigern. Innovation, Sichtbarkeit der Ergebnisse und Kostenersparnis sind dabei wesentliche Faktoren.

Und wenn dann noch ein gewisser Spielspaß dazukommt, dann ist dem IoT der Siegeszug ohnehin sicher. Denn eines liebt der Mensch, egal wie alt er ist: Das Spiel mit Dingen, egal ob mit oder ohne Internet.

Copyright Bild: Unsplash